Unsere Gesellschaft wird am Ende des 20. Jahrhunderts durch eine
ungeheure Flut an Bildern geprägt. Das öffentliche Leben ist in
erhöhtem Ausmaß von einem ausgeklügelten Bildsystem, das mehr
Information in weniger Zeit zu transportieren im Stand ist, abhängig.
Die offensichtlich nützlichen Symbole an öffentlichen Gebäuden, der
Orientierung dienend, bewirken aber letztlich ein Verstummen der
menschlichen Kommunikation, da Erklärungen, was, wo zu finden wäre,
überflüssig geworden sind. Die CD in der Hand bedeutet Musik ohne sie
zu hören, das grüne Symbol eines Fußgängers symbolisiert "gehen", das
rote "stehen" - auch dann wenn kein Grund dafür vorhanden ist. Der
Staat übernimmt solchermaßen durch die Bildersprache die Möglichkeit
der Lenkung ohne Diskussion.
Die Medienindustrie kündigt weltweit die Möglichkeit von 50
Fernsehkanälen und mehr für den Einzelnen an und unterstützt damit
weiter den Trend zu einer sprachlichen Rückbildung der Gesellschaft,
denn die Wahrscheinlichkeit, daß sich bei Vorhandensein von soviel
Bildauswahl, die unterhaltend, aber unauffällig den Geist deformiert,
der Konsument sich sprachlos dieser Informationsflut hingibt, ist
extrem hoch.
Die Vision unter 50 und mehr Programmöglichkeiten jeden Tag auswählen
zu können, bedeutet nichts weniger als dadurch zu einer fragmentierten
Rezeption zu kommen. Die Verlockung sich von den Angeboten jeweils nur
die im Moment passenden Stellen auszusuchen und den Zusammenhang zu
vergessen, führt zu einer phsychischen Wirkung der Bilder, da der
ursprüngliche Zusammenhang der Bilder nicht mehr gegeben ist und
mehrere Gestaltungskriterien sich unkontrolliert in unserem Hirn wieder
zu einer neuen Vorstellungswelt zusammensetzen. Eine virtuelle Welt
entsteht, die wir nicht mehr steuern können. Unsere
Rezeption dessen, was wir als Kultur definieren, ist in gleicher
Weise auf das Bild bezogen. Im Rahmen der Bildenden Kunst mag eine
solche Feststellung selbstverständlich sein. Was sonst, als Bild -
bezogen? Hier ist das Kunstwerk an sich der Ausgangspunkt eines
Wahrnehmungsprozesses, der über das Auge läuft, und der einen komplexen
Denkprozeß auslöst - oder auslösen soll. Und das Kunstwerk verändert
sich nur mehr in unserer Vorstellung, es ist grundsätzlich aber
definiert.
Musik hingegen ist die Kunst, die im Moment ihres Erklingens schon
wieder unwiederbringlich vorbei ist, es sei denn, jemand spielt das
Musikstück noch einmal. Dann allerdings ist es mit Sicherheit nicht
mehr dieselbe Interpretation. Die Kunst der Musik hat sich in der
Wiederholung verändert. Musik hinterläßt in unserer Gedankenwelt wohl
ein Bild, eine Erinnerung, die wir aber in der Vergangenheit nur
mühsam, ohne zu verblassen, im Gedächntis behalten konnten. Um die
Musik bildgleich zu bewahren, bedurfte es komplizierter, und in den
meisten Fällen nicht von allen Konsumenten nachvollziehbarer Methoden:
die Partitur, das Notenbild. das mit der Musik an sich nichts zu tun
hat, war eine Möglichkeit, ein weitere das Konzert.
Beide allerdings verursachen ein anderes Bild des Kunstwerkes Musik.
Beim Lesen einer Partitur kommt zur Erinnerung die eigene
Interpretation in jedem Fall hinzu und ergibt ebenso ein neues Bild
von der Musik wie die Konzertwiederholung, da - siehe weiter oben,
keine Konzert dem anderen gleicht.
Das war zumindest bis zum Beginn unseres Jahrhunderts, bis zum Beginn des Radios so.
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